Dr. Ralf Köbler über E-Akten und den digitalen Wandel in der Justiz

Dr. Ralf Köbler


ist Präsident des Landgerichts Darmstadt. Als ehemaliger Leiter der zuständigen Abteilung des Hessischen Ministeriums der Justiz hat er über viele Jahre die Modernisierung der Justiz vorangetrieben. Er gilt als Verfechter der sogenannten E-Akte und steht wie kein anderer für die digitale Transformation in der Justiz.

IT und Rechtsblog: Herr Dr. Köbler, ab 2026 soll alles elektronisch laufen! Viele sprechen davon, dass diese digitale Transformation in der Justiz seit langem überfällig war. Man denke nur an den Richter, der nun endlich auch, ohne die ganzen Aktenberge mitzuschleppen, von Zuhause aus bequem seine Arbeit verrichten könnte. Auch die Akteneinsicht wird schneller und effektiver von Statten gehen. Für die Richterschaft in allen Belangen eine großartige Sache. 

Aber was bedeutet das beispielsweise für Themen wie die IT-Sicherheit, Datenschutz und der allgemeinen Störanfälligkeit von IT-Systemen. Und bringt diese disruptive Veränderung an den Gerichten nicht auch neue Gefahren mit sich (insbesondere bei unbefugten Zugriffen)? Gängig scheint bereits die Praxis mit den sogenannten Emotet-Angriffen zu sein. Hierbei werden Daten oftmals unzugänglich gemacht und dann ein entsprechendes Lösegeld für die Freischaltung gefordert.

Betrachten Sie diese Digitalisierung in der Justiz als imminente Gefahr oder eher als überfälliger Optimierungsversuch?

Dr. Ralf Köbler: Ich betrachte die Digitalisierung als absolut überfällig. Dazu muss man allerdings wissen, dass ich 15 Jahre lang den IT-Einsatz in der hessischen Justiz verantwortet habe und dadurch dieser Thematik sehr aufgeschlossen bin. Ich will mal damit anfangen, dass es zunächst gar nicht um den Richter geht, der die Aktenberge mit nach Hause schleppen muss, sondern um die Geschäftsstelle und den Lebenszyklus einer Akte. Wenn Sie überlegen wie viele Tonnen Papier-Akten in den Geschäftsstellen hängen und liegen und in Bewegung sind und zu den jeweiligen Zuständigen gebracht werden müssen, dann muss man sich erstmal vorstellen, dass die Lebensphase einer Akte daraus besteht, dass sie einen vorgedruckten Aktendeckel bekommt und dann anschließend einen Computereintrag. Aber der Aktendeckel muss wiederum irgendwo im Schrank vorrätig gehalten werden, und zwar für uns 6000 Stück im Jahr. Und dann wird die Akte in unserem Haus X-mal hin und her getragen und am Ende, wenn das Urteil oder der Vergleich da ist und die Sache rechtskräftig geworden ist, dann kommt die Akte ins Archiv. Das Archiv befindet sich im Dachgeschoss. Im Keller gibt es kein Archiv, weil der Keller nass ist. Das ist in vielen Gerichtsgebäuden ein Problem. Im Archiv wird die Akte für fünf weitere Jahre aufbewahrt. Nach fünf Jahren wird der Titel rausgenommen, den muss man nämlich dann 30 Jahre aufbewahren. Mit anderen Worten, der logistische Aufwand über den gesamten Lebenszyklus einer Akte ist irre und daher einfach nicht mehr zeitgemäß. Und genau das könnte man mit einer elektronischen Akte abkürzen. Die E-Akte ist da, die ist auch da, wenn sie jemandem anderen vorliegt, und sie schimmelt nicht im Keller. Sie hat leider nur das Problem, dass sie betriebssicher und performant gehostet werden muss. Aber da sage ich immer allen Skeptikern, die auch Sorge haben, dass ihre Akte verschwindet, ob auch mal ihr Bankkonto weg war. Bankkonten gibt es nur elektronisch so wie das Grundbuch, die Eigentumsordnung an Grund und Boden. All diese Dinge waren natürlich nie weg. Das heißt, es ist eine Frage der Professionalität des Hostings, der Betriebszentren, der gewählten Technik und der IT-Architektur. Dann sollte die E-Akte für die Justiz auch machbar sein.

Was die Frage angeht, wie gefährlich die E-Akte für die IT-Sicherheit ist, kann ich nur eine ganz unpopuläre Antwort geben. Wer E-Mail-Systeme betreibt und das wollen wir natürlich, wer ungesicherten Internetzugriff oder USB-Sticks als Speichermedium zulässt, der geht immer Risiken ein. Und wir haben in der Justiz, zumindest für den Internetzugriff, die Risiken dadurch minimiert, dass wir eine sichere Lösung gefunden haben. Bei einer E-Mail sieht es anders aus, und das ist in der Tat durchaus gefährlich. Phishing-Angriffe und dergleichen sind heutzutage sehr gut gemacht. Ich kenne Fälle in denen tatsächlich auf einen Sachbearbeiter zugeschnittene Mails verschickt wurden und beim Öffnen des Anhangs es zu Komplikationen kam.

Also insofern würde ich sagen, man muss alle technischen Sicherungsmöglichkeiten selbstverständlich ergreifen. Davon gibt es aber aktuell auch eine ganze Menge, wie bspw. bei unseren Notebooks, die eine Festplattenverschlüsselung haben. Aber ja, das letzte Risiko wird man niemals ausschließen können, es sei denn man betreibt geschlossenen Netze. Und unter den Bedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs ist das, glaube ich, auch keine gute Idee.

„Die E-Akte dürfen wir nicht als bloße Digitalisierung der Papierakte begreifen.“

IT und Rechtsblog: Nun gelten Sie ja als Verfechter der digitalen Transformation in und für die Justiz. Wie können wir uns künftig eine E-Akte vorstellen? Was macht sie besser als sein analoger Genosse, die Papierakte? 

Dr. Ralf Köbler: Die E-Akte dürfen wir nicht als bloße Digitalisierung der Papierakte begreifen. Ich sage immer die heutige Papierakte, wie man sie wahrscheinlich im 18. oder 19. Jahrhundert schon gekannt hat, ist ja nichts anderes, als die Technik, Schriftstücke chronologisch nach ihrem Eingang abzuheften, mit Blattzahlen zu versehen, um den Nachweis führen zu können, dass sie vollständig ist. Aber wenn Sie mit den heutigen Akten arbeiten, dann stellt man sehr schnell fest, dass die Akten häufig unterwegs sind und in der Zwischenzeit wieder etwas passiert, was dann schnell bearbeitet werden muss. Das führt dazu, dass Unterlagen in den sogenannten Retenten geführt werden und die Akte am Ende des Tages nicht mehr chronologisch ist, sondern alles „nur“ abgeheftet wird. Das ist zum Teil dann ein gewisses Durcheinander, und dieses Durcheinander zu digitalisieren macht keinen Sinn. Mit der E-Akte erhält man die Chance Kategorisierungen durchzuführen, also die Dokumente in den Akten zu klassifizieren. Damit ist nicht nur alles chronologisch, sondern bietet auch die Möglichkeit, einzelne Dokumente zu filtern und dann auf einfache Weise sehr rasch zu finden und einzusehen. Zudem bietet die moderne E-Akte dem Bearbeiter die Möglichkeit, nach eigenen Kriterien Exzerpte elektronisch anzufertigen und das ganz einfach, mit Farbstiften. Diese farblichen Markierungen kann man sich dann als eigenes Exzerpt, untereinander geschrieben, anzeigen lassen. Mit solchen Exzerpten kann man mit guten E-Akten Viewern auch eine Relationstabelle erstellen und die einzelnen Tatbestandsmerkmale und den Vortrag dazu zueinander in Beziehung setzen, was für die Richter heutzutage noch eine mühsame Arbeit ist. Weiterhin kann man jedwede Art von Annotationen machen, Verlinkungen auf Entscheidungen, die in den Entscheidungsdatenbanken abgelegt sind. Also ich sehe ehrlich gesagt eine Vielzahl von Vereinfachungen in der Bearbeitung, aber auch in der Durchdringung von Akten. Nicht zu vergessen ist natürlich die allzeitige Verfügbarkeit, die auch die Telearbeit sehr erleichtert.

„Ehrlicherweise mache ich mich gerne lustig über diese Formulierung im Gesetz. Das Gericht darf das Verfahren strukturieren und abschichten heißt es im Gesetz. Da kann man nur die Gegenfrage stellen: konnte es das zuvor etwa nicht?“

IT und Rechtsblog: Im neuen Gesetzesentwurf der Bundesregierung (Drucksache 19/13828) ist eine besondere Änderung des § 139 ZPO vorgesehen. Künftig darf „das Gericht durch Maßnahmen der Prozessleitung das Verfahren strukturieren und den Streitstoff abschichten.“ (in Kraft getreten am 01.01.2020)

Deuten wir das richtig, wenn wir in dieser Änderung den Startschuss für eine voll-automatisierte Urteilserstellung sehen? Denn ein einheitlicher und strukturierter Schriftsatz könnte die Richterschaft mithilfe spezieller Softwaretools dazu befähigen, Tatbestände, Entscheidungsgründe oder gar gesamte Urteile zu erstellen. Ist das eine Antwort auf die neuen technischen Möglichkeiten, die die Anwaltschaft wiederum dazu befähigen Klagen im Sekundentakt zu erstellen? Oder sprechen wird lediglich von einer seichten Veränderung wie einem „digitalen Vorverfahren“ (so auch Greger, NJW 2019, 3429 – Der Zivilprozess auf dem Weg in die digitale Sackgasse)

Dr. Ralf Köbler: Ehrlicherweise mache ich mich gerne lustig über diese Formulierung im Gesetz. Das Gericht darf das Verfahren strukturieren und abschichten heißt es im Gesetz. Da kann man nur die Gegenfrage stellen: konnte es das zuvor etwa nicht? Das ist ja die ureigenste Aufgabe des Richters, aus dem, was die Parteien schreiben, herauszuarbeiten, was entscheidungserheblich ist. Also insofern und so steht es auch in der Gesetzesbegründung, ist das lediglich ein klarstellender Satz, der damit relativ wertlos ist. Aber das Thema, welches spätestens seit dem Juristentag 2014 inhaltlich diskutiert wird, ist jetzt offensichtlich in Berlin angekommen. Und dieser Satz ist zu verstehen aus dem Kapitel „wir machen doch was“. Insofern freut es mich natürlich grundsätzlich.

Die Anwaltschaft sagt dazu immer, das geht doch gar nicht. Deshalb habe ich mich vor einigen Jahren schon mit Herrn Prof. Herberger und der Darmstädter Software AG auf den Weg gemacht, um das an der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften in Speyer mit den Studierenden auszuprobieren. Dabei teilen wir die Studenten in Kläger und Beklagte auf und führen fiktive Fälle hierzu ein. Dazu haben wir eine spezielle Software entwickelt. Die Erfahrungen sind echt spannend und vielfältig: Also selbstverständlich geht sowas. Es ist nur die Frage, ob jeder Fall dafür geeignet ist. Und es ist die Frage, wie man es darstellt, also wie praktisch es ist. Denn am Ende des Tages ist doch die Frage: Wem bringt es was?, würde der Darmstädter sagen. Und da ist doch eigentlich das Ziel, die Strukturierungsarbeit, die dem Richter obliegt, in die Sphäre der Parteien vorzuverlagern. Die Parteien müssen den Stoff schon sinnvoll gegliedert vortragen. Es gibt verschiedene Ansätze, wie man das gestalten kann. Aber am Ende sollte neben dem Klägervortrag der Beklagtenvortrag stehen, der dazu passt. Dann macht das Ganze erst Sinn. Dann kann der Richter noch eine Spalte haben für die Beweiserheblichkeit oder die Schlüssigkeit der Parteienvorträge. Damit hätte man, glaube ich, bei den geeigneten Fällen einen großen Rationalisierungseffekt in der gerichtlichen Arbeit erzielt und hätte zugleich die Anwälte dazu angehalten, sich genau zu überlegen, was an dieser oder jener Stelle sinnvoll vorzutragen ist.

Wie weit das Ganze führt, will ich nicht zu prognostizieren wagen. Es hat tatsächlich eine Studentin in Speyer gegeben, die mit der Software aus einzelnen Textpassage des fiktiven Sachvortrags Urteilsteile generieren konnte. Das ist, so glaube ich, auch kein Hexenwerk. Aber wenn man Entscheidungsgründe oder gar gesamte Urteile erstellen wollte, dann müsste man auch die richterliche Entscheidungsarbeit, also die ideelle und geistige Arbeit, von einer Maschine machen lassen können. Und davon sind wir m.E. noch einige Jahrzehnte entfernt. Das liegt unter anderem daran, dass die Juristerei eine semantische Wissenschaft ist, die man nicht mit naturwissenschaftlichen Kategorien fassen kann. Viel wichtiger wäre, es die realistisch machbaren Vereinfachungen durchzuführen, indem wir einerseits durchgehende elektronische Geschäftsprozesse etablieren und andererseits dafür sorgen, dass die Parteien den Stoff so vortragen, dass es für die Gerichte sowohl technisch als auch inhaltlich weiter verarbeitbar wird. Wenn wir das schaffen würden, dann wären wir viel weiter, als darüber nachzudenken, den Richter durch einen Roboter zu ersetzen.

IT und Rechtsblog: Vielerorts hört man, dass die Gerichte mit den Sachverhalten aus der schönen neuen Welt der IT, nicht wirklich zurechtkommen. Das IT-Recht ist im Vergleich zu den anderen Rechtsgebieten kein wirkliches, nennen wir es mal, Richterrecht, sondern das der Anwaltschaft. Nach Stuttgart und Karlsruhe folgt nun eine weitere Spezialkammer für IT-Rechts Angelegenheiten am LG Hamburg. Halten Sie diese Entwicklung für notwendig? 

Aus der Industrialisierung sind die Arbeitsgerichte hervorgegangen. Braucht es für das 21. Jahrhundert gar eine Fachgerichtsbarkeit für Digitales?

Dr. Ralf Köbler: Das Problem bei einer Fachgerichtsbarkeit für Digitales wäre meiner Ansicht die Definition des Umfangs. Digital sind heutzutage fast alle Geschäftsabläufe. Insofern weiß ich nicht, ob man hier eine sinnvolle Materie generieren könnte. Wenn sie sich die berühmte Vorlesung von Prof. Hoeren zum Internetrecht anschauen, dann sieht man sehr schnell, dass die IT im rechtlichen Kontext ein Querschnittsfach aus allen Rechtsgebieten ist. Also im Grunde durchdringt die Digitalisierung alles. Insofern kann ich dieser These nur wenig abgewinnen.

Was das Thema IT-Recht angeht, kann ich nur auf den Gesetzesentwurf (Drucksache 19/13828), der nun Gesetz geworden ist, verweisen. Demnach sind ab dem 01.01.2020 Spezialkammern für IT-Recht einzuführen. Ich bin grundsätzlich ein großer Freund von Spezialkammern, da diese für mehr Waffengleichheit mit der Anwaltschaft sorgen. Insofern bin ich hier sehr optimistisch.

Skeptisch bin ich allerdings beim Entwurf des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes. Hier werden die Netzwerkanbieter in Ausweitung der Selbstzensur dazu verpflichtet, beanstandete „Posts“ an eine zentrale Stelle beim BKA, weiterzuleiten. Schön, und dann? Das Problem ist, dass das Ganze letztlich bei der Staatsanwaltschaft oder bei einem Zivilgericht hinsichtlich eines Unterlassungsanspruchs, landen wird. Diese Masse an Verfahren ist analog kaum zu bewältigen.

Das ist leider nicht zu Ende gedacht. Wenn man solche Themen digital anstößt, dann muss man das auch digital weiterführen können und die Gerichte mit einbeziehen.

IT und Rechtsblog: Zum Abschluss eine rechtsphilosophische Frage. Stichwort Luhmann. Die „Legitimation durch das Verfahren“, ist Ihnen sicherlich ein Begriff. Nach Luhmann fallen auch die äußeren Umstände und die Rollenverteilungen ins Gewicht, wenn es darum geht, dass am Ende eine Entscheidung von beiden Parteien akzeptiert wird und demgemäß Rechtsfrieden erzeugt wird.

Welchen Einfluss könnten Video-Verhandlungen, Richter mit Tablets am Pult etc. hierauf haben?

Dr. Ralf Köbler: Ich denke, man darf das Verfahren nicht mit einer mündlichen Verhandlung verwechseln. Am Ende des Tages schafft nicht nur die mündliche Verhandlung diesen Rechtsfrieden. Ich habe dahingehend keinen Bedenken, dass auch mit den neuen Medien, ein derartiger Rechtsfrieden zu erzeugen ist. An den Landgerichten hatten wir bspw. Video-Verhandlungen bereits vor 2007, insbesondere bei Verfahren mit Auslandsbezug. Insofern ist uns dieses Medium sehr bewusst und bereits seit langem im Einsatz.

Mein Wunsch, um das Thema praxisgerecht fortzuentwickeln, ist schon seit langem, den Videoverkehr auf die PCs zu bringen, sodass sowohl der Richter in seinem Dienstzimmer sitzt als auch die Anwälte. Technisch wäre das machbar. Aber es wird auch viele Fälle geben, in denen es Sinn macht, sich mit den Beteiligten zusammenzusetzen und Vergleichsgespräche persönlich zu führen.

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Dr. Köbler.