Können Juristen Legal Tech? Und was hat das mit Zuse, Schumpeter und Luhmann zu tun?

Vor rund 26 Jahren starb Konrad Zuse (1910-1995). Der allbekannte Erfinder des ersten funktionsfähigen Computers der Welt. Der Grund für die Erfindung eines programmgesteuerten Rechners lässt sich aus unserer Sicht gut in einem Satz verdichten: Er war schlicht zu „faul“, um routinierte Rechnungen händisch auszuführen!

Vor weit längerer Zeit starb der oft zitierte Ökonom Joseph Alois Schumpeter (1883-1950). Zeit seines Lebens, bewegt und inspiriert von der Idee der kapitalistischen Wirtschaftsordnung und immer auf der Suche nach der treibenden Kraft wirtschaftlicher Entwicklungen und Disruptionen. 

Was haben nun aber Zuses informatische „Bequemlichkeit“ und Schumpeters makroökonomische Wirtschaftsforschung mit der allzu sehr juristisch orientierten Legal Tech – Bewegung zu tun?

Eine nüchterne, selbstreflexive, gelegentlich überzogene, aber wertfrei zu verstehende Analyse des IT- und Rechtsblogs zum Abschluss des Jahres 2021. Our two cents zur deutschen Legal Tech – Bewegung und warum sie ihre Potenziale verschenkt.

Wir orientieren uns dabei an einen über die simplifizierte Rechtsautomation hinausgehenden extensiven Legal Tech-Begriff, der Teile der „Jurimetrics“ (nach Lee Loevinger) und „Artifical Intelligente and Law“ (nach L. Thorne McCarty), miteinschließt.

Aufgrund der sprachlichen Ästhetik und im Namen der Bequemlichkeit Konrad Zuses nutzen wir zur Bezeichnung der Berufskategorien die Geschlechter unserer Autoren. Demgemäß sind in unseren Ausführungen alle Mathematikerinnen weiblich; Juristen und Informatiker männlich.

1. Die Typologie des Juristen

Nun ist es weitläufig bekannt, dass sich Juristen im Studium lieber ausgiebig mit dem fortwährenden Theoretisieren von Problemen beschäftigen, statt sich mit der Business Intelligence, lösungsorientierten Ansätzen und mit der Effizienzsteigerung von Prozessen auseinanderzusetzen.

Im Wissen darum bedarf es daher – wenig verwunderlich – einer „Tiefenanalyse“ hinsichtlich der juristischen Ausbildung und Tätigkeit.

Der Jurist Christian Thomasius beschrieb im 17. Jahrhundert die juristische Entscheidungsfindung wie folgt: „Kurze, deutliche und wohlgegründete Handgriffe, wie man in seinem Kopffe aufräume und sich zu Erforschung der Wahrheit geschicken machen; die erkandte Warheit andern beybringen; andere verstehen und auslegen; von anderer ihren Meinungen urteilen, und die Irthümer geschicklich widerlegen solle.“ (Christian Thomasius, Ausübung der Vernunftlehre, 1691)

Auf die heutige Zeit übertragen bedeutet dies: Der Jurist kreist um die „Wahrheit“ wie der Mond um die Erde. Er wird sie nur nie erreichen, nie berühren diese ein vollkommene und verabsolutierte Wahrheit.

Denn entgegen seines gesellschaftlichen Renommees sorgt der gemeine Jurist – manch einer mag dies bedauern – nicht für diese eine so oft beschworene Wahrheit, sondern vielmehr – kraft seiner konsistenten und überzeugenden Argumentation – für Rechtsfrieden und a posteriori für anhaltendes Vertrauen. 

Eindeutige Antworten gibt es in dieser Argumentationswissenschaft nicht. Das überzeugendste Argument obsiegt im Rechtsstreit.

2. Dekonstruktion antagonistischer Wissenschaften

Während der Informatiker und die Mathematikerin effizientere Lösungspfade erforschen, zwängt sich unser Jurist zunächst ein Mal puritanisch in das enge Gedankenkostüm des Gesetzes und bricht das Außergewöhnliche in das gewöhnlich Juristische herunter.

Während unsere Mathematikerin ihren Beweis längst geführt hat und die mathematische Richtigkeit, als „Wahrheit“ empfunden, apodiktisch für allgemeingültig erklären darf, steckt unser Jurist unterdessen noch voll und ganz in seinen Abwägungen aus tanzenden Interessen und selbstherrlichen Standpunkten. 

Während unser Jurist über die mathematisch anmutende Deduktion hinaus die Graustufen des Gesetzes beleuchtet, bescheinigt sich die Mathematikerin fortwährend die Richtigkeit ihrer Beweisführung. 

Derweil sich der Informatiker, der Mathematik bemächtigt und dadurch seine Umgebung in seiner unnachahmlich pragmatischen und solutionistischen Attitüde simplifiziert, gar rationalisiert und sich so seiner eigenen Routine Stück für Stück beraubt, macht der Jurist aufgrund seines inhärent abwägenden Funktionsablaufs, sich das Leben schwerer und schwerer.

Die Mathematik und ihre jüngere Schwester, die Informatik – oft von sich selbst ergriffen – ,betrachten sich infolge ihrer solutionistischen Herangehensweise und ihrer unbestritten mathematischen Richtigkeit als die gelebte Wahrheit, während sich die Rechtswissenschaft unweigerlich im Terra Incognita bewegen muss und illusionserzeugend darauf hofft, mit seiner nackten Argumentationskraft für allgemeine Akzeptanz werben zu können.

Dabei kommt die Rechtswissenschaft erst dann zu ihrer vollen Blüte, wenn das Gesetz keine Antworten mehr bereit hält. Wenn die Mathematik und die Deduktion scheitern; wenn die Reproduktion des immer Gleichen vergeht; wenn Lebensbereiche nicht kalkulierbar und nicht algorithmisierbar sind, bricht sich eine gewisse Plötzlichkeit bahn und unser Jurist gelangt zu seiner innovativen Einzigartigkeit oder wie der Rechtsphilosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel zu sagen pflegte, zu seiner „wahre(n) schöpferischen Potenz des Denkens“. Das ist die ultimative Schöpfungshöhe und zugleich die gläserne Decke der Juristerei.

3. Wem gehört Legal Tech?

Wann immer das Wort „Legal Tech“ aus taktischen Marketing Gründen von Kanzleien aufgerufen werden muss, haben diese Kanzleien im ewig gleichen Takte alle pathetischen Floskeln parat. 

Doch aus dieser multidisziplinären Beschreibungsform heraus sollte nun mehr als deutlich werden, dass man Legal Tech endlich als das begreifen sollte, was es ist: Schlicht und ergreifend (Rechts-)Technologie. Mathematik und Informatik. Nullen und Einsen. Keine Graustufen. Keine Abwägungen. Keine Unwägbarkeiten. Also all das, was eine Argumentationswissenschaft nicht sein sollte. 

Zwischen den Erfordernissen der Rechtstechnologie und dem juristischen Denken besteht ein echter Gegensatz und zwischen den Disziplinen ein unauflösbarer Widerspruch. Soll heißen, Legal Tech gehört nicht den Juristen, sondern in erster Linie den Mathematikerinnen und den Informatikern!

Bequemlichkeit und Effizienz? Eine der juristischen Akribie und Spitzfindigkeit völlig fernbleibender Gedanke.

Solutionismus und Pragmatismus? Eine Herangehensweise die der juristischen Denkschule nicht gegensätzlicher sein könnte.

Sofern also diese „Technologie“ weiterhin keinen nennenswerten Platz in der juristischen Ausbildung findet, wird die Legal Technology dem Juristen immer ein Fremdkörper bleiben und damit auch nie seine Herzensangelegenheit sein. Und so wird auch nie ein Jurist aus eigenem Antrieb wie einst Konrad Zuse (so vermuten wir) zu sich sagen: Diesen oder jenen Prozess müsste ich künftig effizienter gestalten, formalisieren oder gar automatisieren. 

Ausnahmen wie „juristische Pioniere“ bestätigen nur die Regel, ändern aber nichts an den systemischen Gegebenheiten.

Damit aus dem Hype nicht Schall und Rauch wird, bedarf es einer Internalisierung des „Fremden“. Wer Legal Tech als mathematisch-informatisch verfasste Kategorie nicht internalisieren möchte, wirft ständig Kraut und Rüben zusammen und verlangt das Unmögliche. Oder um es mit den Worten des Showmasters Rudi Carell im Hinblick auf die juristische Ausbildung zu sagen: „Man kann nur aus dem Ärmel schütteln, was man vorher rein getan hat.“

Genau gesehen ist der Hype um die Legal Technology also das schönste Plädoyer für ein interdisziplinäres Umdenken in der rechtswissenschaftlichen Ausbildung und gegen die Perpetuierung von Standesdünkel. „Mehr Fortschritt wagen“, möchte man sagen. Gewiss, ohne dabei alles gegen den Strich zu bürsten. Ordnung muss schließlich sein.

4. Übermaß an Selbstgewissheit und das Recht der Informationstechnologie

Juristisches Denken und juristisches Urteilen ist der Endgegner, die letzte Stufe, die letzte Entscheidung zur endgültigen, dem Rechtsfrieden stiftenden Akzeptanz. 

Alles Andere ist der Rechtswissenschaft vorgelagert und prima facie, ein diffuses, gesichtsloses Gebilde an Details und zusammenhanglosen Teilaspekten eines dem Juristen fremden Sachverhalts, dass nur darauf wartet, mit den Mitteln der Rechtsdogmatik verallgemeinert, deduziert, dogmatisiert, abgewogen und in Verhältnisse gesetzt zu werden.

Der Jurist missversteht sich in dieser Nabelschau als Supervisor. Als jemand, der über den Dingen stehe.

Aber ein großer Irrtum juristischer Entscheidungsfindung ist und bleibt ihr selbstreferenzielles Beurteilungsvermögen. So verliert der gemeine Jurist oftmals aus den Augen, dass jede Stufe seiner Rechtsanalyse alle vorgehenden voraussetzt und in Sich enthält, in concreto die juristische Entscheidungsfindung mit der Beurteilung des ausschlaggebenden Sachverhalts organisch zusammenhängt. 

Nur die genaue Kenntnis über die verschiedenen Einzelheiten aus dem Sachverhalt und der Zugang zu einem zumindest rudimentären Technologie-Verständnis, sowie Vorannahmen und Prinzipien der informatischen Disziplin, insbesondere ihrer nachgelagerten Geschäftsprozesse, gestatten es dem Juristen, eine schlüssige, überzeugende und vertrauenswürdige Rechtslösung zu entwickeln.

Nach dem interdisziplinären IT-Forscher Dr. Jörg Pohle ist es wichtig zu begreifen, dass es sich bei Informatiksystemen nicht nur um eine Basistechnologie handelt, sondern um eine, die hochgradig formbar ist, nämlich mit Software frei programmierbar, und das dazu führt, dass die rechtliche Regelung dieser Technik, von ihrer Entwicklung bis zu ihrer Anwendung in verschiedenen Anwendungsdomänen, ein hohes Maß an Verständnis sowohl der informatischen Basis wie konkreten Anwendungszusammenhänge voraussetzt. (Zum Interview mit Dr. Jörg Pohle: https://it-und-rechtsblog.de/dr-jorg-pohle-uber-informatiker-juristen-und-die-kunftige-entwicklung-der-dsgvo/)

Verschafft sich der Jurist keinen „echten“ Überblick zum informationstechnologisch geprägten Sachverhalt und erhält er mangels Verständnis keinen Zugang zu diesem, verfasst der Jurist künftig nur noch die Fussnoten zu seinem eigenen abgeschlossenen Werk.

5. Infrastruktur – Get down to the Basics

Langatmige Ausführungen zu diesem Punkt sind aus unserer Sicht nicht notwendig, alldieweil weitgehend selbsterklärend und lassen sich deshalb in wenigen Sätzen zusammenziehen: Datenmodelle, Datenbanksprachen, Kommunikationsnetze, et cetera sind oft nicht so bunt schillernd wie die Künstliche Intelligenz oder die Blockchain, weshalb sie in der juristischen Diskussionskultur als zu banal empfunden werden. Performanz sei schließlich die Aufgabe des „niederen“ Informatikers; nicht des Juristen, der sich vornehmlich den höheren“ Künsten widmet.

Doch weit gefehlt, denn das Wissen um eine performante IT-Infrastruktur, ist sowohl maßgebend für die Beurteilung diverser zivilrechtlicher Haftungsfragen bspw. im Bereich der Cybersecurity (Mehr dazu in unserem Interview mit Dr. Dennis-Kenji Kipker: https://it-und-rechtsblog.de/was-ist-cybersecurity/), als auch für die Konstruktion von Legal Tech-Anwendungen.

Wir müssen wieder zum Wesentlichen zurückkommen. Eine Binsenweisheit, die man sich fast zu wiederholen scheut.

6. Der Zweck heiligt die Mittel?

Zum Fortschreiten der Legal Tech-Bewegung sei abschließend noch folgendes gesagt: Es ist nicht alles „Digital“, was glänzt.

1969 hebt der deutsche Soziologe und Gesellschaftstheoretiker, Niklas Luhmann, in seinem Werk „Legitimation durch Verfahren“ die elementare Bedeutung der Gerichtsverfahren hervor. Seiner Auffassung nach legitimieren sich Institution, wie Gerichte, durch ihre Verfahren und damit auch durch ihre Verfahrensart. Nach Luhmann fallen auch die äußeren Umstände ins Gewicht, wenn es darum geht, dass am Ende eine Entscheidung von beiden Parteien akzeptiert wird und demgemäß Rechtsfrieden entstehen kann.

Legal Tech ist daher nicht nur eine Frage der Effizienz oder der Bequemlichkeit, sondern primär eine Frage der Akzeptanz und des Rechtsfriedens. Das sollte man bei all der Euphorie, um die Legal Technology, nie aus dem Auge verlieren.

7. Ausblick und Schumpeters kreative Zerstörung

Wir schließen diesen Artikel mit der schumpeterschen Vogelperspektive.

1942 exponiert sich der Ökonom Joseph Schumpeter in seinem Werk „Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie“ und konnotiert den makroökonomischen Begriff der „schöpferischen Zerstörung“ (vermutlich in Anlehnung am marxschen Zerstörungsbegriff) zum ersten Male als Positivum. 

Nach Schumpeter revolutionieren sich Wirtschaftsstrukturen unaufhörlich von innen heraus. Dabei werden unaufhörlich alte Struktur zerstört, unaufhörlich neue Strukturen geschaffen. Dieser Prozess der kreativen Zerstörung ist für Schumpeter das für den Kapitalismus wesentliche Faktum. Grundlage dieser unablässigen Umwälzung sind nach Schumpeter unternehmerisch geschaffene Innovationen.

Ein Alarmsignal ersten Ranges für den unternehmerisch und informatisch ungeschulten Juristen?

Diese Melange aus unvermeidbaren Gegensätzen in den übergreifenden Denkkategorien und Disziplinen, dem mangelhaften Investitionswillen und den merkwürdigen Fokusverengungen hinsichtlich interdisziplinärer Ausbildungsstrukturen, ebnen den Weg für die Beantwortung der Frage, ob die Juristen von morgen Legal Tech können.

Können Sie? Wir bleiben Zweckoptimisten!

In diesem Sinne wünschen wir allen Leser:innen und Hörer:innen frohe Weihnachten und ein gutes Neues Jahr!

Mit ergebenster Vorzüglichkeit

Der IT und Rechtsblog


Der Jurist, Der Informatiker, Die Mathematikerin
Ein Jurist mit einem Faible für die Verzahnung von IT und Recht. Ein rechthaberischer Informatiker und eine Mathematikerin die auch mit Zahlen umgehen kann.

Unsere Top 5 – Empfehlungen für das Jahr 2021:

👉 Unsere Buchempfehlung des Jahres 2021 zum Thema Rechtsinformatik, KI und Legal Tech, von Dr. Jörg Pohle und Prof. Dr. Klaus Lenk – „Der Weg in die „Digitalisierung“ der Gesellschaft“ (https://www.metropolis-verlag.de/Der-Weg-in-die-Digitalisierung-der-Gesellschaft/1461/book.do) (unbezahlte Werbung)

👉 Wenn es ein profundes Gespräch zum Thema Legal Tech und zukunftsfeste Fertigkeiten gibt, dass das Prädikat besonders wertvoll verdient hat, dann das Gespräch zwischen Felipe Molina und Dirk Hartung im LTLC-Podcast, dass wir an dieser Stelle nur wärmstens empfehlen können. Hier zu hören: Legal Tech – Was muss ich lernen? Wo kann ich es lernen? (https://podcasts.apple.com/de/podcast/legal-tech-was-muss-ich-lernen-wo-kann-ich-es-lernen/id1481440154?i=1000542168433)

👉 Zum Thema Interdisziplinarität und Digital Ethics empfehlen wir die Insights von b.yond: https://www.byond-digital.com/insights/

👉 Wer noch nicht genug hat und ein ernsthaftes Interesse an Rechtstechnologie und Datenschutz hegt, darf gerne in unser Gespräch mit dem Datenschützer Martin Rost reinschnuppern: https://podcasts.apple.com/de/podcast/der-it-und-rechtspodcast/id1511961135?i=1000540114727

👉 Wer sich für die Umsetzung datengetriebener Projekte, Datenökonomie und der Smart City interessiert, darf auch gerne hier vorbeischauen: https://podcasts.apple.com/de/podcast/der-it-und-rechtspodcast/id1511961135?i=1000524382078