Die IT und das Primat des Rechts

Auslegung im Kontext der IT-Innovation

Savigny vom Kopf auf die Füße gestellt?

Wenn sich im Gesetz planwidrige Regelungslücken auftun, plötzlich völlig unbestimmte Rechtsbegriffe, wie der „Stand der Technik“ in die Queren kommen und der Jurist sich nicht mehr zu helfen weiß, dann kommen die rechtlichen Argumentationsfiguren ins Spiel. Mithilfe des Wortlautes, der Systematik, der Historie und dem Sinn und Zweck des Gesetzes, gilt es, nach Friedrich Carl von Savigny (Bild), dem Vater dieser Methodik, dass dem Gesetze innewohnenden Gedanken“ zu ermitteln. Die Argumentationsfiguren sind so gesehen der Werkzeugkasten eines jeden deutschen Juristen.

Vom Standpunkt der folgenden zwei Beispiele wird das altbekannte und altbewährte Fundament der rein-juristischen Rechtsauslegung aber zunehmend schwankend.

Folgenprobleme der rein-rechtlichen Gesetzesauslegung

Beispiel 1 – Die Blockchain basiert auf dem Prinzip der Unveränderlichkeit und die Vermeidung zentraler Eingriffsrechte. Die DSGVO fordert hingegen mit Art. 17 DSGVO zwangsläufig ein zentrales Eingriffsrecht, um das Recht auf Löschung zu gewährleisten.

Beispiel 2 – Wenn jemand einen Schaden durch einen Verstoß gegen die Datenschutz-Grundverordnung erleidet, dann hat dieser nach den allgemeinen Beweisregeln der Zivilprozessordnung, für das Vorliegen und die Höhe des Schadens Beweise zu liefern. Wieso? Weil der Art. 82 DSGVO mit keinem Wort darauf eingeht, dass sich die Beweislast umkehren sollte. Dieses sogenannte „beredete Schweigen“ deuten die meisten Juristen als gesetzgeberische Intention für die regulären Beweisregeln und damit vollen Beweislast beim Betroffenen/Geschädigten. Andere Juristen wiederum sehen den Grundgedanken des Art. 5 DSGVO konterkariert und sprechen dem Betroffenen/Geschädigten eine Beweislastumkehr zu.

Statt sich nun weiter über das Recht in wörtlicher, systematischer, teleologischer Auslegung auszulassen, stellt sich dem gemeinen Mathematiker/Informatiker nur eine Frage: Was ist das technisch Vernünftige? Eine Frage, die bei einem Rechtsgelehrten erstmal hintenansteht.

In Beispiel 2 erklärt die sogenannte herrschende Auffassung den Betroffenen defacto zu einem IT-Forensiker. Das wäre aus der Sicht des Informatikers schlicht und ergreifend unvernünftig. Eine ausgewogene, technisch-juristische und folgenorientierte Auslegung würde dann vermutlich zu etwaigen Beweiserleichterungen oder einer Beweislastumkehr führen, was wiederum dem Wortlaut des Gesetzes (Art. 82 DSGVO) widersprechen würde.

Am Beispiel 1 zeigt sich, dass der Wille des Gesetzgebers völlig unklar ist. Hat der Gesetzgeber die vermehrte Anwendung der Blockchain-Technologie nicht kommen sehen? Oder hält er etwa die altbewährten Datenbanken für datenschutzfreundlicher und hat das Recht auf Löschung, als eine Art Antipode zu unveränderlichen IT-Systemen konzipiert?

Die folgenorientierte technisch-juristische Auslegungsfigur als freiheitliche Auslegung

Wie Sie sehen, bringen die herkömmlichen Argumentationsfiguren aus der Perspektive des Informatikers keine klaren und pareto-optimalen Resultate hervor.

Während der Jurist bei Beispiel 2 die Bedenken bräsig vom Tisch wischt, weil hier lediglich Nachteile bei der Beweisführung eines Betroffenen zu erkennen sind, führen die Unsicherheiten bei Beispiel 1 zu einer Zersetzung etwaiger Digitalisierungsbemühungen und enormen Fehlallokationen in unserer Volkswirtschaft.

Machen die genannten Normen im disruptiven Wandel noch Sinn? Ist das unumstößliche Primat der reinen Rechtsauslegung noch zeitgemäß? Wie ist umzugehen mit dem permanenten Wandel der Technik? Warum fließen eigentlich diese folgenorientierten Faktoren aus der Informationstechnologie und aus der Mathematik, als „normative Kraft des Technischen“, nicht in die rechtliche Überlegung mit ein?

Herr Savigny, darf man aus der juristischen Denkblase heraustreten oder ist das schon Blasphemie?

Aus dem Fremden für das Eigene lernen

Erkennen können wir nur Unterschiede, keine Identität.

Aus dieser Binsenweisheit heraus sollte man sich zunächst wieder bewusst machen, dass die Rechtswissenschaft keine Naturwissenschaft, sondern eine reine Argumentationswissenschaft ist. Eindeutige Antworten gibt es nicht. Kurzum: Das überzeugendste Argument obsiegt im Rechtsstreit (Thomas M.J. Möllers, Juristische Methodenlehre, S. 5/Rdn.8).

Die Mathematik und die Informatik, als Schwesterwissenschaft der Mathematik, sind Naturwissenschaften! Sie orientieren sich an den objektiven Gegebenheiten. Quod erat demonstrandum sagt unsere Mathematikerin immer. Wörtlich bedeutet diese mathematische Wendung „was gezeigt werden sollte“, sprich der Beweis ist geführt und damit unumstößlich abgeschlossen. Liebevoll wird der Beweis mit einem schwarzen Quadrat ■ gekennzeichnet.

Ja, selbst die Wirtschaftswissenschaften oder Fachbereiche wie die Psychologie und die Soziologie bedienen sich mathematisch-statistischer Methoden, um möglichst präzise Prognosen zu treffen. Oder haben Sie mal einen Volkswirtschaftler gesehen, der Entscheidungen aus dem Bauch heraus, ohne mathematische Modellierungen, trifft? Wir hoffen nicht!

Einzig die Rechtswissenschaft verschließt sich dem Ganzen. Denn der Jurist arbeitet nicht nur mit und am Gesetz, sondern zuvörderst aus dem Gesetz. Aus dem Gesetz zu arbeiten, bedeutet den tieferliegenden Sinn und Zweck des Gesetzes (die ratio legis) zu eruieren. So lebt die Rechtsauslegung, wie -anwendung, in einer in sich abgeschlossenen leibnizschen Monade und versucht aus sich selbst heraus sachgerechte Lösungen anzubieten. Das Gesetz erhält dabei einen Fetischcharakter. Das scheint die unumstößliche Anatomie der Rechtswissenschaft zu sein.

Die mathematische Gleichung hierzu könnte wie folgt lauten:

Komplexes außerrechtliches System / Übersetzung in monokausales Rechtssystem = Rechtsfrieden

Wie kann aber etwas, dass das Fremde tagtäglich analysiert und beurteilt, sich dem Fremden so rigoros verschließen? Wird es Zeit auch das Recht zu quantifizieren?

Unser aller Recht(ssystem)

Zur Ehrenrettung der Rechtswissenschaft sei nun doch folgendes zu sagen: Das Recht ist mehr als das was die Gesetzgebung zum Recht erklärt, mehr als das was schwarz auf weiß auf dem Papier steht, mehr als eine bloße amoralische Existenz. Es entsteht historisiert betrachtet aus Gründen, die der Lebenswirklichkeit entspringen. Das Gesellschaftliche, das Kulturelle, das Technische, das Ökonomische. All diese nichtrechtlichen Bereiche, vor und außerhalb des Rechts vorgefunden, durchdringen und verdinglichen sich in die Sphäre des Rechts. Um es bildlich darzustellen: Das Recht saugt, wenn man so will, wie ein Schwamm alles auf und versucht es in sich zu ordnen.

Ja, und genau aus diesem Grund lohnt es sich allemal das Gesetz in die Hand zu nehmen und den Geruch abertausender Jahre Empirie und Systematik rauf und runter zu atmen.

Das große ABER im disruptiven Wandel

„Auf Gebieten wie dem der friedlichen Nutzung der Kernenergie, bei denen durch die rasche technische Entwicklung ständig mit Neuerungen zu rechnen ist, kommt hinzu, daß der Gesetzgeber, hätte er tatsächlich einmal eine detaillierte Regelung getroffen, diese laufend auf den jeweils neuesten Stand bringen müßte.“

(Bundesverfassungsgericht, 08.08.1978 – 2 BvL 8/77)

Nun liegt es aber in der Natur der Sache, dass das Gesetz der Technik hinterher hinkt. Der Regelungsbedarf ist daher häufig sehr hoch. Das ist soweit auch nicht tragisch. Der Idealzustand wäre allerdings eine hohe Erzeugungs- und Umsetzungsrate von „guten“ Gesetzen und die damit einhergehende Beseitigung jedweder Lücke und Unklarheit. In Zeiten der rasant zunehmenden Digitalisierung kann allerdings kein Gesetzgeber der Welt dies mit bestem Wissen und Gewissen gewährleisten.

Wenn also die Lücke zwischen Gesetz und Technik durch den technischen Wandel dermaßen auseinanderklafft und die Gesetze permanent der technischen Wirklichkeit widersprechen, entwickelt sich aus dem freiheitlichen Ordnungsrahmen ein überreglementierter Überbau an Gesetzen ohne realen Bezugspunkt. Und wenn unsere Rechtsanwendung, wie -auslegung, dasselbe Phänomen verkörpert, dann führt sich diese Wissenschaft in den Exitus oder wahlweise in ein intellektuelles Nischendasein.

Mangels Digitalisierungswelle ist diese Erkenntnis bisher tatsächlich nur ein selbstgeißelnder „Unkenruf“ eines IT-Juristen, eines Informatikers und einer Mathematikerin. Dieser „Unkenruf“ wird aber irgendwann zur Realität und potenziert sich spätestens mit der enormen Wirkkraft der auf uns zukommenden Welle technischer Veränderungen. Hier zeigt sich sehr schnell, dass die Rechtswissenschaft und ihre Methodik, als die Methode der reinen Arbeit aus dem Gesetz heraus, nur solange sachgerechte Resultate hervorbringen kann, wie das Technische stagniert und die Innovationskraft einer Gesellschaft ruht. Diese –  zugegeben – „steile“ These begründet sich damit, dass das Gesetz und die Rechtsanwendung immer die aktuellen gesellschaftlichen Verhältnisse abbilden.

Wenn folglich erstmal das Kapital in der Wechselwirkung zwischen “ Unternehmer, Sparer und Techniker „ (so sinngemäß Volksökonom Ludwig von Mises) zu umwälzenden Innovationen führt und sich diese technischen Innovationen auf die Gesellschaft niederschlagen, dann kontert der Gesetzgeber häufig mit neuen Gesetzen, um die neue Lage wieder beherrschbar zu machen. Getreu dem Motto: If you have a hammer, everything looks like a nail. Nun haben wir aber bereits festgestellt, dass sich dieser Turnus an permanenter Gesetzeserzeugung, weder aktuell noch im disruptiven Wandel zu sachgerechten Resultaten führen wird. Mathematisch gesprochen: Die Gleichung geht nicht mehr auf!

Quantifizierung des Rechts durch Auslegung?

Abhilfe könnte daher die Erweiterung des Argumentationskanons leisten. Eine Erweiterung um eine technisch-rechtliche Auslegung, als Unterfall der folgenorientierten Auslegung, kann dazu beitragen technisch vernünftige Lösungen aufzuzeigen. Demzufolge wird selbstverständlich weiterhin mit  und am Gesetz gearbeitet, allerdings nicht mehr nur ausschließlich aus dem Gesetz heraus argumentiert, sondern auch unter Einbeziehung der Funktionalität und Granularität der Informationstechnologie.

Die technisch-rechtliche Argumentationsfigur als folgenorientierte Auslegung im disruptiven Wandel hat leider einen HackenSie verlangt eine gewisse digitale Kompetenz der gesamten Juristenschaft. (absolut lesenswert hierzu, Risse: Mathematik, Statistik und die Juristerei, NJW 2020, 2383)

Wirtschaftliche Erwägungen im Recht und der Stand der Technik

Wenn Sie glauben es sei absurd, fachfremde Erwägungen in die Juristerei einzubringen, dann kennen Sie sicherlich nicht das sogenannte Hühnerpest-Urteil des BGH. Mit Urteil vom 26. 11. 1968 hat der BGH dem Kläger diverse Beweiserleichterungen aus wirtschaftlichen Erwägungen zugesprochen. Aber auch die Anerkennung des Sicherungseigentums durch die Rechtsprechung ist ein Sinnbild für den Einfall fachfremder Erwägungen in die Rechtsanwendung. Die Anwendung ökonomischer Anreizsetzung in der Rechtsauslegung als folgenorientierte und zugleich freiheitliche Auslegung, finden und fanden, wie sie sehen, schon lange statt. Die Gerichtsurteile, die sich mit der „Wirtschaftlichkeit“ und den Folgen ihrer Rechtsentscheidung beschäftigen sind dabei endlos.

Aber auch und insbesondere an den sogenannten „unbestimmten Rechtsbegriff“, wie dem „Stand der Technik“, entsteht ein Einfallstor für technisch-juristische Auslegungsmuster. Denn der „Stand der Technik“ wird letztlich nicht von Juristen bestimmt, sondern „rein objektiv“ von den Technikern (Kipker, Cybersecurity, S. 91/Rdn. 17).

> Denkverbote gibt es in dieser Argumentationswissenschaft nicht, nur die Grenzen unserer Verfassung. <

Interdisziplinärer Hoffnungsschimmer

Und so hat als kleiner interdisziplinärer Hoffnungsschimmer, das letzte Wort kein Juristkein Informatiker und auch keine Mathematikerin, sondern ein Poet.

Two roads diverged in a wood, and I—

I took the one less traveled by,

And that has made all the difference.

(Robert Frost – The Road Not Taken)


Der Jurist, Der Informatiker, Die Mathematikerin
Ein Jurist mit einem Faible für die Verzahnung von IT und Recht. Ein rechthaberischer Informatiker und eine Mathematikerin die auch mit Zahlen umgehen kann.